Metaphorische Bildwelten
01.01.2023
von
Esther von der Fuhr
Offensichtliches und Verborgenes: Sommer Ulrickson, Regisseurin und Choreografin Der Tango-Operita MARÍA DE BUENOS AIRES, im Gespräch mit Tanzdramaturgin Esther von der Fuhr.
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ESTHER VON DER FUHR (EVDF) Was war dein erster Gedanke, als die Inszenierung MARÍA DE BUENOS AIRES an dich herangetragen wurde?
Sommer Ulrickson (SU) Ich habe mich über die Anfrage sehr gefreut, da ich die Musik Astor Piazzollas liebe. Während meines Studiums hatte ich die Aufgabe, eine Choreografie zu Musik von Piazzolla zu entwickeln. Zumeist assoziiert man mit Tango das Bild des Paartanzes, aber ich sollte ausdrücklich kein Duett, sondern ein Solo choreografieren. Insofern ist meine Vorstellung von Tango nicht gleich verhaftet mit den üblichen Bildern und Klischees, sondern sehr offen, ich glaube, das begünstigt einen kreativen Umgang mit dem Thema.
EVDF Die Herausforderung besteht also auch im Umgang mit den Erwartungen, die an einen Tango-Abend geknüpft sind?
SU Tango Argentino ist sehr komplex: um diesen professionell auf die Bühne zu bringen, benötigt man langjährige Erfahrung oder zumindest jemanden, der den kulturellen Hintergrund oder ein fundiertes Wissen der Materie besitzt. Das Ensemble der Produktion setzt sich aus Sänger*innen, Musicaldarsteller*innen, zeitgenössischen Tänzer*innen und einem Schauspieler zusammen. Ich fände es komisch, eine Authentizität vorzugeben, die nicht existiert. Insofern müssen wir mit den Gegebenheiten und unserer „Wahrheit“ umgehen und einen für uns passenden Umgang mit dem Thema finden. In meiner Inszenierung durchmischen sich die Sparten, da letztendlich alle, die wir auf der Bühne sehen, María oder einen Aspekt von ihr, verkörpern. Sie alle erfahren und durchleben diese Geschichte.
EVDF Die eigentliche Probenphase beginnt Mitte Januar, aber bereits im November gab es eine Vorprobenwoche, in der wir erste Ideen und Herangehensweisen ausprobieren konnten. Dazu gehörte auch ein Tango-Argentino-Workshop.
SU Ich fand diesen Workshop wichtig als Einstieg in das Stück, um zu verstehen, mit welchen Strukturen und Kommunikationsformen der Tango arbeitet. Die Kenntnis von Form und Technik der Grundschritte dient uns als Basis und Inspiration sowohl bei der Entwicklung des Bewegungsmaterials, als auch für die inhaltliche Stückentwicklung und Konzeption. Tango ist gleichermaßen Inbegriff von Dualität und Einheit und setzt sich unter anderem mit Machtfragen auseinander: Führen-Folgen, Entscheiden-Zuhören, Männlich-Weiblich, Vertrauen-Misstrauen, Abhängigkeit-Unabhängigkeit, Zusammengehörigkeit-Alleinsein sind nur einige Beispiele für Polaritäten, die Tango mit sich bringt. Da es sich um einen lebendigen und innerhalb der Struktur improvisierten Dialog handelt, ist jede Bewegung eine Frage, die eine Antwort sucht. Dieser Ansatz ist extrem spannend für die inhaltliche Auseinandersetzung und die Entwicklung der Choreografie.
EVDF Wie sieht deine Herangehensweise aus, wie näherst du dich der Geschichte?
SU Wenn ich ein Libretto erstmals lese, achte ich darauf, welche Themen und Bilder mir in Erinnerung bleiben. Gibt es Szenen, die mich berühren oder Sätze, die hängen bleiben? Bei MARÍA DE BUENOS AIRES ist es die schicksalhafte Situation Marías, die ihren Ausdruck findet in einer sehr poetischen Form und Sprache. Über allem steht die Musik Piazzollas. Wenn man sich auf ihre Emotionalität einlässt und darüber hinaus noch einige prägnante Sätze heraushört, reicht das um zu begreifen, was auf der Bühne verhandelt wird. Man kann und muss textlich nicht alles verstehen – wichtiger sind die Charaktere und die Bilder, weil sie eine andere Ebene erzählen. Mich interessieren die Machtverhältnisse und die sozialen Strukturen, die in der Geschichte gegeben sind. Vor diesem Hintergrund entsteht eine andere Lesart, die dem Publikum Spielraum lässt für eigene Bilder und Assoziationen.
EVDF Wie dürfen wir uns den Bühnenraum vorstellen?
SU Mireia Vila Soriano und Alexander Polzin haben ein Bühnenbild entworfen, das mit der Idee von Innen und Außen, Sichtbarem und Verborgenem spielt. Mittels einer Drehbühne entstehen immer wieder neue Räume und Situationen – ein Mechanismus, der eine eigene Dynamik besitzt und Einfluss nimmt auf das Bühnengeschehen, und somit das Spiel von Machtverhältnissen auf einer weiteren Ebene aufgreift. Darüber hinaus hat das Bühnenbild auch etwas von einem Labyrinth, welches wiederum die verschiedenen Schichten der Geschichte widerspiegelt.
EVDF Das Libretto der Tango-Operita stammt von dem Lyriker Horacio Ferrer. Inwiefern setzt du die Texte in deiner Inszenierung um?
SU Indem ich versuche, für die metaphorischen Bildwelten eine theatralische Variante und Übersetzung zu finden. Horacio Ferrer spielt in seinem Text mit eigenen Wortschöpfungen, zahlreichen Metaphern und Doppeldeutigkeiten, die wir, da wir den kulturellen Hintergrund nicht besitzen, weder verstehen noch zuordnen können. Darüber hinaus ist der Text teilweise im Argot der Bewohner von Buenos Aires verfasst, einer Sprache, die nur innerhalb einer bestimmten Gruppe von Menschen verstanden wird. Und hier ist wieder die Parallele zum Tango: Es gibt bestimmte Codes und Regeln, die Grundlage der Kommunikation der Tanzenden sind … für den Außenstehenden sind diese kaum erkennbar – aber vielleicht gerade deshalb umso faszinierender.
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